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Die Sache mit dem ADHS

10.12.2013 | 4 Kommentare

ADHS – das Aufmerksamkeits­defizits­hyperaktivitäts­syndrom.
Auch: hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens.

Zunehmend mehren sich Stimmen, die behaupten „Das gibt´s doch gar nicht wirklich! Nur eine Erfindung der Pharmaindustrie.“ oder
„Das sind normale Kinder. Aber die haben schlechte Eltern. Und unsere ganze Gesellschaft ist schlecht.“

Das wahre Leid der ADHSler interessiert dabei dann nicht mehr.
Und ihre medizinisch-psychologische Versorgung erscheint vernachlässigbar.

Umso dankbarer bin ich, einen Gastbeitrag eines ADHSlers präsentieren zu können.

Jens Grabarske ist Mitte Dreissig, steht im Berufsleben – und hat ADHS.

Die folgenden Zeilen beschreiben, was er durchmacht – und zeigen, wieso wir ADHS nicht wegdiskutieren sollten.

„Die suizidalen Schübe sind das Schlimmste. Hätte ich heute morgen einen Knopf drücken können, der mich schmerzfrei und risikolos tötet und gleichzeitig dafür sorgt, dass niemand wegen meines Todes leiden muss, ich hätte ihn bedenkenlos und ohne zu zögern gedrückt.

Depressionen bis hin zu Selbstmordabsichten oder sogar -versuchen sind “komorbid mit ADHS”. Das ist Mediziner-Jargon für: hat man ADHS, dann bekommt man häufig auch solche depressiven Episoden. Eine amerikanische Studie in diesem Jahr belegte, dass Menschen mit ADHS eine dreimal so große Wahrscheinlichkeit haben, in ihrem Leben Selbstmord zu begehen. Dieses Ergebnis verwunderte mich nicht und es dürfte für jeden, der verstanden hat, was ADHS bedeutet, auch keine Überraschung sein. Leider verstehen die meisten nicht, was ADHS ist.

Wer einen nach außen sichtbaren körperlichen Geburtsfehler hat, der muss seinen Mitmenschen in der Regel nicht erklären, welche Einschränkungen damit einher gehen. Jeder weiß, dass ein Blinder seine Augen nicht oder nur zu einem stark eingeschränkten Anteil benutzen kann. Wer mit nicht ausgeprägten Gliedmaßen aufwächst, bei dem ist es offensichtlich, welche Schwierigkeiten er bei der Verrichtung von Dingen hat, die für andere alltäglich und normal sind.

Unser körperlicher Defekt ist nicht offen sichtbar. Nur moderne Apparate und ausgeklügelte Tests können sichtbar machen, dass der Teil unseres Gehirns, der direkt hinter der Stirn liegt, der sogenannte präfrontale Kortex, nicht ausreichend ausgebildet ist.

Wäre der unaufhörliche Strom der Gedanken in unserem Kopf ein Orchester, dann wäre der präfrontale Kortex der Dirigent. Er schafft Ordnung im Chaos von Hunderten von möglichen Entscheidungen, die wir treffen können. Die Weihnachtseinkäufe sind noch nicht getätigt, Tante Frieda muss angerufen werden, man wollte sich mit einem Freund verabreden, die Wohnung muss aufgeräumt werden, der Flurdienst steht an und man muss ein Telefonat mit der Bank führen – von all diesen Gedanken wählt der präfrontale Kortex aus, welcher den Vorzug enthält, was gerade wichtiger ist und bringt die Gedanken, die gerade nicht anliegen, zum Schweigen oder lässt sie leise genug werden, dass es ein harmonisches Ganzes gibt. Bei normalen Menschen.

 

Wie man es auch sehen möchte: dass bei ADHS das Orchester zu groß oder zu unorganisiert ist, dass der Dirigent nicht groß genug ist, oder nicht genug Durchsetzungsvermögen hat, dass der Dirigent schlecht gesehen werden kann, das Resultat ist dasselbe: bei uns schafft es der Dirigent nicht, ein normales Maß an Ordnung im Orchester zu halten. Er ist überfordert, ermüdet schnell und, sobald er ermüdet ist, verliert sich auch noch das Wenige an Kontrolle, die er über das Orchester hatte.

Es etabliert sich eine Form des Rechts des Stärkeren. Der stärkste Gedanke bläst oder trompetet oder tuscht und übertönt die anderen Gedanken. “Stark” bedeutet dabei: der Gedanke, der am vielversprechensten für das direkte, sofortige Wohlbefinden ist. Das sind neue Gedanken, Gedanken an Spaß und Spannung und Freunde. Dabei ist es unwichtig, wie wichtig dieser Gedanke ist. Relativ machtlos kann der Dirigent nur leicht leiten, man hört ihn nur als mahnende Stimme, “Aber die Wohnung! Denk an die Wohnung!” Aber der neuste Internettrend ist spannender, er reißt einen mit, neue Erfahrungen, neue Gefühle, neue Erinnerungen, man saugt es gierig auf.

Ohne Steuerung, ohne einen starken Dirigenten, ist man wie ein Süchtiger darauf aus, das Gehirn mit neuen Eindrücken zu überfrachten. Solange bis die wichtigen Aufgaben fast zu spät sind und eine andere Emotion hineinbringen: Torschlusspanik. Die Freunde sind schon im Anmarsch, die Wohnung ist immer noch unaufgeräumt, jammert der Gedanke, und jetzt ist es schlicht zu spät, alles in Ordnung zu bringen. Die Angst lässt den Gedanken laut werden. Jetzt plötzlich hat man die Energie, man fängt an wie ein Irrer aufzuräumen. Zu diesem Zeitpunkt schon zu spät. Man arbeitet auf Lücke, stopft Dinge in Kisten, lässt Unordnung hinter Türen verschwinden. Ganz gelingt das nie. Die Freunde reagieren kumpelhaft gelassen, es fallen aber natürlich neckende Sprüche. “Zum Geburtstag schenken wir dir einen Flammenwerfer und ein Kehrblech.” Oder: “Soll ich mal bei dir aufräumen kommen?”

Die Erkenntnis sinkt tief: man hatte drei Wochen Zeit aufzuräumen. Man hatte zwei Tage vorher angefangen. Unermüdlich hat man gearbeitet, aber es war nicht genug. Man grinst, überspielt die schnippischen Anmerkungen und geht zu was anderem über. Innerlich schämt man sich und weint. Wieder etwas, was man nicht geschafft hat und was für andere selbstverständlich ist.

Quelle: Life Mental Health/ Flickr/ CC-BY-SA

Was bei der Wohnung bei guten Freunden irgendwann keine Rolle mehr spielt, ist auf der Arbeit fatal. Das Projekt, was man vor zwei, drei Jahren mit aufgebaut hat und das man faszinierend fand, kann sich jetzt nicht mehr gegen den Chor und die Pauken und Trompeten des Neuen durchsetzen. Man schafft es nicht, die einfachen Tätigkeiten durchzuführen, die es beenden. Das Neue lockt wie ein Sirenengesang und man entkommt ihm nicht. Bis zur Torschlusspanik. Nach durchgearbeiteten Tagen und Nächten liefert man dann ein Ergebnis ab, was hinter den Erwartungen und Versprechen zurück bleibt. Ernste Worte des Vorgesetzten, der nicht begreifen kann, wo das Problem ist. Es liegt nicht an der Kompetenz, nicht am Willen, nicht an der Fähigkeit. Auch Faulheit ist kein Grund. Aber man ist nicht fertig geworden. Es werden Strukturänderungen im Handeln besprochen – ironischerweise genau die, die man drei Jahre zuvor vorgeschlagen hatte und die in den Wind geworfen wurde. Diesmal lässt man sie sich diktieren. Wenigstens ist es ein Weg in die richtige Richtung.

Aber die Scham und die Schuld bleibt. Man hat ja sein Gehalt bekommen, natürlich darf der Arbeitgeber verlangen, dass man auch das tut, wofür man bezahlt wird. Man macht sich Vorwürfe. Man zweifelt an sich. Man schaut auf sein Leben zurück und zählt die zahllosen Projekte, die man angefangen, aber nie wirklich zum Abschluss gebracht hat. Der Lebenslauf eines jeden ADHSlers ist ein Friedhof für Projekte und Ideen.

Man bekommt eine Depression, die sogenannte ADHS-Depression. Man fragt sich, ob man jemals ein normales Leben führen kann, wo man einen normalen Beruf normal ausführt, nach Hause kommt in eine normal geführte Wohnung. Und man weiß, dass die Antwort “Nein” ist. Man ist nicht normal. Man ist ADHSler. Es gibt keine Heilung. Man kann ADHS nur managen, nicht entfernen.

Es gibt Situationen und Jobs, bei denen dieses Management sehr gut gelingt, zumindest für eine Zeit. Doch ohne dieses Management, ohne sich ständig bewusst zu machen, dass man ADHSler ist, ist es wie bei Sisyphos, der Figur der griechischen Mythologie, der dazu verdammt war, einen kugelförmigen Stein den Berg hinauf zu drücken, wobei der Stein immer wieder, wenn er Rast machte oder kurz vorm Höhepunkt war, in das Tal zurück rollte.

Ich las gestern eine gute Beschreibung: “Jeder ADHSler hat einen Werkzeugkasten mit Werkzeugen, mit denen er das Leben meistern kann. Der Kasten ist vollständig und gut sortiert. Er ist außerdem transparent, man kann alle Werkzeuge klar und gut erkennen, die in dem Kasten sind. Der Kasten ist verschlossen. Den Schlüssel sieht man deutlich in der Kiste neben den Werkzeugen liegen.”

In den Medien ist ADHS entweder eine Entschuldigung, aktive und lebhafte Kinder von erziehungsunwilligen Eltern durch Gift gefüge zu machen. Oder es ist das Witzbild eines Charakters, der doch eigentlich gut damit klar kommt. Beides ist nicht die ganze Wahrheit und verkennt, dass es eine ernste Diagnose ist. Selbst die Medikamente machen die Problematik nur beherrschbarer. Lösen tun sie die nicht. Ich bemitleide jedes Kind, das ADHS hat. Sein Leben wird alles andere als leicht sein.

Der einzige Trost bei einer depressiven Episode ist dabei, dass das ADHS selbst dafür sorgt, dass sie vorüber geht. Bald ist ein anderer Gedanke stärker, der mit Spaß und Spannung winkt und der den Gedanken, ob dieses Leben überhaupt lebenswert ist, schnell übertönt. Ausnahmsweise hoffe ich mal, dass das bald passiert.“

4 Kommentare

  1. Vielen Dank für diesen großartigen Artikel! Ich kann ihn zu 100% unterschreiben!

  2. Das klingt erschreckend nach mir. Hatte noch nie eine ADHS Diagnose. Genialler Artikel, fühlt sich gut an zu sehen, dass es andere gibt, die solche Probleme haben und sie zumindest im Rahmen meistern!

    Danke!

  3. Danke für diesen Beitrag!

    Leider liest man immer nur Berichte über Adhs und nicht von jemanden der betroffen ist. Es wird immer nur „über“ und nicht „mit“ gesprochen.

  4. Schöner Artikel über mein Lieblingsthema …